Kritik des Klimastreiks am Klima-Massnahmenplan der Stadt Winterthur
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Die Stadt peilt das Jahr 2050 an, um Netto-Null CO2-Emissionen zu erreichen. Dieses Ziel ist ungenügend und verantwortlungslos. Die Zielsetzung darf nicht dem problematischen Status quo gehorchen, sondern muss sich an der Realität der Klimakrise ausrichten. Um global NN2050 erreichen zu können und der eigenen Verantwortung gerecht zu werden, muss die Stadt Winterthur weit früher Netto-Null Emissionen erreichen. Der Klimastreik Winterthur kritisiert, dass das Ziel NN2030 – oder überhaupt ein früheres Zieljahr als 2050 – nicht eingehend untersucht wurde. Aus demokratischer Sicht ist es zudem problematisch, dass der Stadtrat die Bevölkerung gar nicht erst über NN2030 abstimmen lassen will. Dass NN2030 möglich wäre, hat der Klimastreik mit dem Climate Action Plan aufgezeigt.
Winti gemeinsam für Netto Null 2030
Petition
Wir fordern, dass der Stadtrat auch für NN2030 einen ausführlichen Massnahmenplan erarbeiten lässt und dass das Stimmvolk darüber abstimmen kann!
Petition unterzeichnenDer Klima-Massnahmenplan unter der Lupe
Der Stadtrat hat Anfang März 2021 den neuen Klima-Massnahmenplan präsentiert. Das darin festgelegte Ziel für Netto-Null (NN) Treibhausgasemissionen (THGE) ist das Jahr 2050. Ab dann soll die Stadt Winterthur unter dem Strich keine Treibhausgase mehr ausstossen. Als Zwischenziel wurde festgelegt, dass der Ausstoss pro Person und Jahr eine Tonne THG bis 2035 betragen soll. 60 Massnahmen in verschiedenen Bereichen (Energieversorgung und Gebäude, Mobilität, sowie lokale Wirtschaft, Konsum und Freizeit) sollen zusammen mit einem Plan dieses Ziel realisieren. Im Voraus konnten diverse Interessensgruppen Vorschläge zu den Massnahmen einreichen. Der Klimastreik hat ebenfalls über 50 Massnahmen sowie eine Stellungnahme, warum die Zielsetzung NN2030 zwingend notwendig ist, abgegeben.
Im Massnahmenplan wurden nach Angaben der Stadt drei Szenarien «Weiter wie bisher» (WWB) – 2 Tonnen CO2-Emissionen bis 2050, genannt «Winergie 2050» –, NN2030 und NN2050 untersucht. Bezüglich der Ausgangslage schreiben die Verfasser*innen im Fachbericht: «Im Massnahmenplan 2021–2028 werden die Massnahmen der nächsten Jahre hinsichtlich des Ziels Netto-Null 2050 konkretisiert sowie Überlegungen zu den zwei Varianten ‹Weiter wie bisher› und ‹Netto-Null 2030› gemacht.»1 Im Fachbericht schreiben die Verfasser*innen zur «Stossrichtung»: «Der Grundlagenbericht analysiert die Zielsetzungen ‹Weiter wie bisher›, ‹Netto-Null 2030› sowie ‹Netto-Null 2050›.»2 Wer den Grundlagenbericht seinerseits analysiert, merkt, dass diese Aussagen wenig zutreffend sind. Zu NN2030 wurden weder seriöse «Überlegungen» gemacht, noch wurde es «analysiert». Der Bericht stellt unmittelbar nach dem gerade zitierten Satz klar: «Nachfolgende Erläuterungen konzentrieren sich auf den Massnahmenplan 2021–2028 mit dem Ziel ‹Netto-Null 2050›.»3 Der Bericht arbeitet das Szenario NN2050 sehr detailliert aus und bespricht auch das Szenario WWB – von NN2030 ist ausser ein paar Phrasen wenig zu sehen. Auf Seite 9 des Grundlagenberichts (in Tabelle 4) legt die Stadt dar, wie ihr Auftrag an die Verfasser*innen des Berichts lautete: WWB soll «ausgearbeitet» werden, für NN2050 soll aufgezeigt werden, «wie es erreichbar ist», für NN2030 hingegen sollen «zusätzliche Schwierigkeiten aufgrund der kurzen Zeit bis 2030» aufgezeigt werden.
Einzelne vielversprechende Ansätze
Der Massnahmenplan führt 60 Massnahmen an, um das Ziel Netto-Null 2050 zu erreichen. Bevor wir uns grundsätzlich mit dem gesetzten Ziel befassen, wollen wir einige Massnahmen hervorheben.
In gewissen Bereichen verfolgt der Massnahmenplan vielversprechende Ansätze: So etwa die regionale Kreislaufwirtschaft mit Sharing-, Repairing-, Secondhand und Recycling-Angeboten.4 Oder auch bei den Massnahmen für eine klimafreundliche Stadtentwicklung, wo eine Reduktion der Wohnfläche pro Person durch Steuerung der baulichen Entwicklung und Erhöhung der Nutzungsflexibilität erreicht werden soll.5 Ebenfalls weisen Ziele wie der Ansatz 5-Minuten-Stadt und Ausbau nachhaltiger Mobilität, welche ein lückenloses Velonetz, sichere Fusswege und einen guten ÖV umfassen, in die richtige Richtung.
Die meisten Massnahmen sind jedoch zu zaghaft. So zum Beispiel beim Konsum: Die Stadt anerkennt zwar, dass mehr als die Hälfte der verursachten Emissionen der Winterthurer Bevölkerung im Ausland anfallen. Ihre Aufklärungsarbeit dazu ist aber höchst ungenügend und wird mit punktuellen Kampagnen wie «Klimaverrückt» angegangen, die wir bereits letzten Herbst kritisiert haben. Auch die Ansätze, die lokale Wirtschaft klimafreundlich zu gestaltet, vermögen nicht zu überzeugen. So wirft die angestrebte Förderung innovativer Startups und der Cleantech-Branche grundsätzliche Fragen auf. Erstens stellen Technologie und Innovation einen zentralen Wirtschaftswachstumszwang dar, zum anderen werden Rebound-Effekte vernachlässigt. Effizienzverbesserungen werden oft teilweise oder ganz dadurch absorbiert, dass die eingesparten Ressourcen und Gelder durch mehr von demselben Konsum oder anderen zusätzlichen Konsum aufgewogen werden.6
Die mangelhaften Massnahmen überraschen indes nicht. Denn wenn der Zeitpunkt für Netto-Null zwanzig Jahre zu spät angesetzt wird, ist es logisch, dass viele Massnahmen nicht genügend sein können. Auch wenn der städtische Klima-Massnahmenplan den Anschein erweckt, dass das NN2050-Ziel alternativlos ist, stimmt dies mitnichten.
Climate Action Plan (CAP) – Ein Massnahmenplan für NN2030
Der Klimastreik Schweiz selbst hat mit dem Climate Action Plan (CAP) gezeigt, dass es sehr wohl möglich ist, einen Massnahmenplan für NN2030 zu erarbeiten.7 Der Massnahmenplan CAP wurde vom Klimastreik zusammen mit dutzenden Expert*innen und Wissenschaftler*innen erarbeitet und anfangs dieses Jahres veröffentlicht. Die Kernbotschaft der über 138 Massnahmen ist: NN2030 ist technisch realisierbar und kann dabei auf eine gesellschaftlich gerechte Weise erreicht werden. Geplant ist, dass Kritik sowie neue Ideen in eine überarbeitete zweite Version des CAP einfliessen sollen, damit dieser auf einer breiteren Basis abgestützt ist und so demokratischen Prinzipien genügt.
Netto-Null 2050 ist keine Option
Im Gegensatz zur Gruppe von Wissenschaftler*innen und Klimastreikaktivist*innen um den CAP hat sich die Stadt Winterthur kaum mit dem Szenario NN2030 befasst. Diese stark asymmetrische Priorisierung der Szenarien ist umso stossender, wenn wir uns daran erinnern, dass wir als Klimastreik Winterthur vor knapp einem Jahr bereits in einem Communiqué zu den von uns eingereichten Massnahmen für eben diesen Massnahmenplan klar gemacht haben, dass die «geplante Klimapolitik [NN2050] der Stadt Winterthur fahrlässig und ethisch nicht vertretbar ist». Darum forderten wir, «dass die Stadt einen detaillierten Massnahmenplan für NN2030 ausarbeitet». Wir stellten schon damals klar, dass die Ablehnung von Massnahmen und Zielen aufgrund zu hoher monetärer Kosten nicht vertretbar sei. Denn die Kosten der Klimakrise sind nicht nur finanzieller Art. Fehlende Massnahmen kosten Menschen und anderen Lebewesen ihre Lebensgrundlage, was ungleich schwerwiegender ist. Die Stadt Winterthur scheint erkannt zu haben, dass Nicht-handeln viel drastischere Konsequenzen mit sich bringt und letztendlich die höheren Kosten verursacht, als jetzt auf die Klimakrise zu reagieren. Doch obschon die Stadt hiermit richtig liegt, kommt sie trotzdem zum falschen Schluss. Wer so argumentiert, müsste zwangsläufig das NN-Ziel deutlich früher als aufs Jahr 2050 ansetzen, denn NN2050 wird bereits verheerende Folgen haben, dies – wie im nächsten Abschnitt ausgeführt – vor allem für ärmere Länder des Globalen Südens, wie auch für weniger privilegierte Gruppen in der Gesellschaft. Doch NN2030, so der Fachbericht, sei der Stadt zu teuer. Gegen dieses Scheinargument der Kosten zog der Wirtschaftsprofessor und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz in einem Artikel im The Guardian einen treffenden Vergleich: Die Klimakrise sei vergleichbar mit einem Krieg, denn unser Leben und unsere Zivilisation, wie wir sie kennen, stünden auf dem Spiel. In einem Krieg könne man sich auch nicht fragen: «Können wir uns das leisten?» Wir können es uns nicht leisten, nicht alles zu tun, was möglich ist. Denn in dieser existentiellen Krise geht es um nichts weniger, als um den Kollaps unserer Ökosysteme und um unsere Leben. Warum das Ziel NN2050-Ziel nicht vertretbar ist, begründen wir in den folgenden Abschnitten.
Netto-Null 2050 global heisst Netto-Null 2030 lokal
Im Grundlagenbericht zum Energie- und Klimakonzept 2050 steht geschrieben, dass sich «das zweite Szenario ‹Netto-Null 2050› (NN2050) am Pariser Klimaabkommen, an der Absicht des Bundesrats und an der im Grossen Gemeinderat überwiesenen Motion [orientiert]. Das dritte und letzte Szenario ‹Netto-Null 2030› orientiert sich an den Forderungen der Klimajugend.»8
Sowohl die Aussage, dass NN2050 sich am Pariser Klimaabkommen orientiere, wie auch, dass NN2030 sich (nur) an der Forderung des «Klimajugend» orientiere, sind bei genauerer Betrachtung nicht zutreffend. Die Stadt Winterthur unterzeichnete 2020 die «Klima- und Energie-Charta Städte und Gemeinden». In dieser anerkennt die Stadt erstens die wissenschaftlichen Erkenntnisse des IPCC, wonach die Klimaerhitzung auf 1.5° C beschränkt werden muss, zweitens, dass bis spätestens 2050 die weltweiten THGE nahezu vollständig zu eliminieren sind und, drittens, die spezielle Verantwortung der Schweiz durch den hohen pro Kopf Ausstoss sowie die Verfügbarkeit von Wissen, Technik, qualifizierten Fachleuten und finanziellen Mitteln, um gegen die Klimaerhitzung rasch und mit grossem Engagement voranzugehen.9
Das NN2050-Ziel widerspricht nun aber sowohl den Erkenntnissen des IPCC als auch der Klima- und Energie Charta und ihren Zielen: Denn um global auf NN-2050 zu kommen, müssen reiche, industrialisierte Staaten des Globalen Nordens – um ihren fairen Anteil an den Lasten zu tragen und somit ihrer Verantwortung nachzukommen – einen überdurchschnittlich grossen Beitrag leisten und weit früher null THGE erreichen als jene des Globalen Südens. Dies vor allem aus zwei Gründen: Einerseits haben reiche Staaten aus dem Globalen Norden eine historische Klima-Schuld, da sie bis heute den grössten Teil der Treibhausgase ausgestossen haben. Andererseits sind diese Staaten aufgrund ihres grösseren Wohlstands eher in der Lage, die Lasten der Massnahmen gegen die Klimakrise zu tragen.10 Nur so wird den ärmeren Ländern im Globalen Süden genügend Zeit verschafft, so gut wie möglich auf die Klimakrise zu reagieren. Auch innerhalb von Staaten ist NN2050 statt NN2030 nicht vertretbar, denn die Klimaerhitzung führt zu einem Teufelskreis der sozialen Ungleichheit: Die anfängliche Ungleichheit vergrössert sich, da benachteiligte Gruppen überproportional unter den verheerenden Auswirkungen der Klimaerhitzung leiden. Sie sind den verheerenden Auswirkungen ungeschützter und den entstehenden Schäden häufiger ausgeliefert. So dass es auf Dauer für sie zunehmend schwieriger wird, sich von der ausufernden Verwüstung ihrer Lebensverhältnisse zu erholen.11
Warum sind 20 Jahre Unterschied in der Zielsetzung so entscheidend?
Da die Klimaerhitzung schon zu weit fortgeschritten und unumkehrbar ist, werden wir in jedem Fall mit einschneidenden Folgen zu kämpfen haben. Unsere Handlungsmöglichkeiten liegen somit darin, noch Schlimmeres zu verhindern und die Auswirkungen der Klimakrise möglichst abzuschwächen. Je länger wir damit warten, drastische Massnahmen zu ergreifen, desto wahrscheinlicher wird es, dass die 1.5 Grad-Grenze überschritten wird. Bei einer solch starken Erwärmung drohen zahlreiche Kipppunkte in unserem Klimasystem ausgelöst zu werden, was zu einer unaufhaltbaren, sich selbst verstärkenden globalen Erhitzung führen wird. Was bereits die bisherige globale Erwärmung um 1 Grad für die Schweiz bedeutet, wird im nächstfolgenden Abschnitt beschrieben. Davon ausgehend lässt sich erahnen, wie katastrophal eine Erwärmung um mehrere Grad wäre. Für Länder im Globalen Süden werden die Auswirkungen in jedem Fall ungleich schwerer sein: Durch die Klimakrise werden ganze Landstriche geflutet oder ausgetrocknet, was Zwangsumsiedlungen, Hungersnöte und Millionen von Flüchtenden zur Folge hat. Dies zeichnet sich schon heute ab.
Zusammengefasst: Wenn sich selbst reiche Industrieländer an Netto-Null 2050 orientieren, wird ein globales Netto-Null 2050 kaum möglich sein. Mit Netto-Null 2050 nehmen wir nicht nur ein viel höheres Risiko, sondern auch gleichermassen mehr Hunger, Flucht und Tod in Kauf, als wir es mit Netto-Null 2030 tun.
Welche Folgen hat die Klimakrise konkret für unsere Region?
Die Schweiz erwärmt sich durch die Klimaerhitzung überdurchschnittlich stark. Bereits heute haben wir im Vergleich zur vorindustriellen Zeit eine Erwärmung der Lufttemperatur um 2 Grad Celsius, also rund doppelt so viel wie der globale Durchschnitt. Viele Konsequenzen sind bereits jetzt spürbar und werden mit der globalen Erhitzung zusätzlich verstärkt.
Einerseits nehmen die Häufigkeit und Intensität von Hitzewellen zu. Hitze belastet den menschlichen Organismus und stellt besonders für ältere Menschen und Säuglinge eine ernstzunehmende Gefahr dar. Schon jetzt werden in der Schweiz während Hitzewellen erhöhte Sterblichkeitsraten festgestellt. Ob Bäuer*in, Gärtner*in, Gleis- oder Strassenbauarbeiter*in – in vielen Branchen werden Arbeiter*innen immer stärker unter der Hitze leiden. Weiter führen Trockenheit und vermehrte Hitze zur Verschiebung der Lebensräume von Organismen und destabilisieren ganze Ökosysteme. Dies bietet einen perfekten Nährboden für invasive Arten: Neben Pflanzen fallen darunter auch neue Zeckenarten, die asiatische Tigermücke oder weitere Krankheitserreger.
Andererseits nimmt die Häufigkeit der Kälteperioden ab, was auch im Flachland bereits erschreckende Konsequenzen mit sich zieht: In den letzten fünfzig Jahren sind in Gebieten unter 800 M.ü.M. (wie z. B. Winterthur) die Schneetage bereits um die Hälfte zurückgegangen. Zudem wird die Landwirtschaft durch ambivalente Wetterextreme wie Starkniederschläge belastet. Dies kann zu vermehrten Ernteausfällen führen und die nationale Ernährungssicherheit gefährden.
Die Schweizer Bevölkerung wird somit ebenfalls mit den Folgen der Klimakrise zu kämpfen haben. Wie drastisch diese ausfallen, hängt vom gewählten Emissionsabsenkungspfad ab.12
Welches Ziel ist realistisch?
Dass das NN2050-Ziel im Klima-Massnahmenplan grundsätzlich nicht hinterfragt wird, zeigt, dass die Verantwortlichen offenbar unfähig oder unwillens sind, sich ein Szenario vorzustellen, welches sich am Problem der Klimakrise und nicht am problembereitenden Status quo bemisst. So sagt der Stadtrat in seiner Präsentation an der Medienkonferenz vom 9. März, dass das NN2050-Ziel ein «realistisches, wirtschafts- und sozialverträgliches Ziel […]» sei, das NN2030-Ziel hingegen an den politischen und rechtlichen Realitäten scheitern werde.13 Es sind die klassischen Totschlagargumente: Die vorherrschenden polit-ökonomischen Verhältnisse werden als alternativlos und die Realität als unveränderbar erklärt. Offensichtlich hat der Stadtrat hier ein falsches Verständnis von Realität, wenn er sie als gegeben und unveränderbar betrachtet. Denn ganz im Gegenteil liegt Realität nicht ausserhalb des menschlichen Begreifens und Handels, sondern ist genau durch diese konstruiert. Kurz, die Realität ist durch menschliches Handeln bestimmt – für die realen Verhältnisse tragen insbesondere jene Verantwortung, die politische und ökonomische Machtpositionen haben. Die Stadt Winterthur müsste also ihre Massnahmen nicht der jetzigen Realität, sondern die momentane polit-ökonomische Realität den zwingend notwendigen Zielen anpassen.
Verantwortungslose und undemokratische Klimapolitik
Betrachten wir den Massnahmenplan der Stadt zum Schluss noch aus demokratietheoretischer Perspektive. Wie im ersten Abschnitt gezeigt, wurde im Klima-Massnahmenplan das einzige verantwortbare Ziel (Netto-Null 2030) quasi nicht behandelt. Doch was ist der Wert der beiden wissenschaftlichen Berichte (Grundlagenbericht, Fachbericht), wenn bereits der Auftrag vorgibt, den Plan NN2030 nicht etwa auszuarbeiten, sondern nur die Schwierigkeiten desselben aufzuzeigen; wenn sich die Stadt im Vorhinein schon für das geläufige und durch die Motion im Grossen Gemeinderat geforderte NN2050 entschieden hat? Es gibt Grund genug, hier den Vorwurf von Voreingenommenheit und Agenda-Setting zu erheben. Und dies ist aus demokratischer Sicht bedenklich. Wenn der Stadtrat ein anderes Ziel als NN2050 erst gar nicht untersuchen lässt, erstickt er den so zentralen demokratischen Aushandlungsprozess im Keim. Wenn er die einzige der Situation angemessene Wahlmöglichkeit im Vorhinein ausschliesst, hat das Stimmvolk lediglich die Wahl zwischen einer schlechten (NN2050) und einer desaströsen Option (WWB). Es ist undemokratisch, die Meinungs- und Willensbildung und die kollektive Selbstbestimmung seitens der Regierung derart zu begrenzen.14 Hinzu kommt, dass in einer repräsentativen Demokratie, die ihrem Namen gerecht werden will, die «Volksrepräsentant*innen» die Bevölkerung über das Ausmass und die Dringlichkeit der Klimakrise aufklären müssen. Denn nur mündige und informierte Personen können eine gute Entscheidung treffen. Vor allem aber muss eine Reaktion auf eine Krise dieser Grössenordnung in stetiger Partizipation mit der Bevölkerung erarbeitet werden – es reicht nicht, die Bevölkerung am Ende darüber abstimmen zu lassen. Dies ist auch unter dem Aspekt der Gerechtigkeit zentral. Denn es werden zwar alle Bevölkerungsschichten von einem Klimamassnahmenplan betroffen sein, aber nicht alle gleich stark. Die finanziell schwächer Gestellten wird es oft härter treffen und dementsprechend werden diese eher nicht hinter den Massnahmen stehen (können). Politiken zur Bewältigung des Klimawandels werden sehr ungleiche Auswirkungen innerhalb und zwischen Gesellschaften haben. Zudem sind die von den Emissionen am stärksten betroffenen Gemeinschaften in der Regel von den Entscheidungsgremien ausgeschlossen, die solche Praktiken genehmigen und regulieren.15
Verpflichtungen durch politische Autorität wird vernachlässigt
Stadt- und Gemeinderat scheinen ihre Rolle zu verkennen – und damit ihre Macht und somit auch ihre Verantwortung. Der Stadtrat als Exekutive und der Gemeinderat als Legislative sollten die Bedingungen schaffen, dass das notwendige und nicht verhandelbare NN2030 Ziel erreicht wird. Dazu gehört auch, ihre politische Autorität und ihre Ressourcen einzusetzen, um die Bevölkerung umfänglich über die Klimakrise, ihre Konsequenzen und vor allem über die Mittel zur Bekämpfung und Abschwächung der Krise zu informieren. Der Stadt und dem Staat hingegen geht es in erster Linie um die Verwaltung und Erhaltung der bestehenden ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse – jener, die das Problem sind. Solch eine politische Autorität, welche nicht den Willen zeigt, die politischen Rahmenbedingungen so zu verändern, dass eine lebenswerte und gerechte Zukunft global möglich ist, ist mit unserer Demokratie nicht zu vereinbaren.
Wir brauchen mehr direkte Partizipation der Bevölkerung
Nachdem die markanten demokratischen Mängel rund um den Massnahmenplan aufgezeigt wurden, erstaunt es umso mehr, dass in diesen auch Forderungen (des Klimastreiks) nach «Kommunikation und partizipativen Prozessen» Eingang gefunden haben: «Die Ziele können nur gemeinsam mit der gesamten Winterthurer Bevölkerung und der Wirtschaft erreicht werden. Deshalb wird die Kommunikation im Klimabereich gebündelt und neue Formen der Kooperation mit der Bevölkerung werden geprüft und eingeführt.»16 So will die Stadt z. B. «neue Strukturen zur Einbindung von Anliegen der Bevölkerung in die Politik prüfen, schaffen und etablieren» (K 2.2) sowie «Partizipative Prozesse stärken» (K 3.1).17 Dramatische Probleme verlangen gesellschaftliche Lösungen. Doch die Demokratie, die zur dynamischen und innovativen Entwicklung jener Gesellschaften beitragen soll, steckt selbst in einer Krise.18 Die Klimakrise ist der Inbegriff eines solchen dramatischen Problems. Genau hier versagen die Stadt Winterthur, wie auch Kanton und Bund. Denn nur auf Grundlage des Engagements, der Intelligenz, der Kooperation der Vielen und nur staatenübergreifend wird die Menschheit die Klimakrise eindämmen können19. Da das Schicksal einer Demokratie vom Demos (also dem Staatsvolk) bestimmt wird, gilt es, einen Demos zurückzugewinnen, der sich aus vernünftigen, informierten und aktiven Bürger*innen zusammensetzt. Aus diesem Grund werden wir uns in Zukunft noch stärker für eine radikale Demokratisierung der Gesellschaft einsetzten.
Fazit
In den vergangenen zwei Jahren sind tausende Winterthurer*innen für NN2030 und Klimagerechtigkeit auf die Strasse gegangen. Der Klimastreik Winterthur hat konkrete Massnahmen für NN2030 in die Ausarbeitung des städtischen Massnahmenplan eingereicht und vor Kurzem ist zudem der Climate Action Plan erschienen, welcher aufzeigt, wie NN2030 möglich wäre. Trotzdem hat sich der Winterthurer Stadtrat für NN2050 entschieden. Somit wird willentlich mehr Hunger, Flucht und Tod in Kauf genommen. Aus diesem Grund lancieren wir als Klimastreik Winterthur eine Protestkampagne. Wir fordern alle Winterthurer*innen auf, unsere Petition für Netto-Null 2030 zu unterschreiben. Diesen Protest tragen wir aber auch entschlossen auf die Winterthurer Strassen: Als Reaktion auf die fahrlässige Klimapolitik der Stadt Winterthur rufen wir gemeinsam mit anderen Bewegungen und Gewerkschaften am Freitag 21. Mai zum Strike for Future auf. An diesem nationalen Streiktag werden in der ganzen Stadt Aktionen stattfinden, welche aufzeigen, warum Netto-Null 2050 global Netto-Null 2030 lokal heissen muss!
Fussnoten
1 Fachbericht, S. 1.
2 Fachbericht, S. 3.
3 Fachbericht, S. 3.
4 Fachbericht, S. 29.
5 Fachbericht, S. 30.
6 Parrique, T., Barth, J., Briens, F. et al.: Decoupling debunked: Evidence and arguments against green growth as a sole strategy for sustainability. European Environmental Bureau, 2019.
7 Climate Action Plan, online: https://climatestrike.ch/de/posts/cap-0-introduction-and-vision-executive-summary
8 Grundlagenbericht, S. 9.
9 Klima- und Energiecharta Städte und Gemeinden (2020), Klimabündnis Schweiz, aufgerufen am 16.03.2021, online: https://stadt.winterthur.ch/themen/leben-in-winterthur/energie-umwelt-natur
10 Bou-Habib, Paul: Climate Justice and Historical Responsibility, in: The Journal of Politics 81 (4), 2019, S. 1298 -1310.
11 Islam, N., Winkel, J.: Climate Change and Social Inequality. Department of Economic & Social Affairs, United Nations 2017.
12 BAFU et.al.: Klimawandel in der Schweiz. Indikatoren zu Ursachen, Auswirkungen, Massnahmen. Umwelt-Zustand Nr. 2013, S.105, 2020.
13 Präsentation Medienkonferenz Netto-Null bis 2050, online: https://stadt.winterthur.ch/themen/leben-in-winterthur/energie-umwelt-natur/klimaschutz , S. 4.
14 Demirović, Alex: Multiple Krise, autoritäre Demokratie und radikaldemokratische Erneuerung, in: PROKLA. Zeitschrift für Kritische Sozialwissenschaft 43 (171), 2013, S. 193-266.
15 Harlan, S. L., Pellow, D. N., Roberts, J. T. et al.: Climate justice and inequality. Climate change and society: Sociological perspectives, S.127-163, 2015.
16 Fachbericht, S. 4.
17 Fachbericht, S. 31.
18 Demirović, Alex: Radikale Demokratie und Sozialismus. Grenzen und Möglichkeiten einer politischen Form. ONLINE-Publikation 21/2017 wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung V. i. S. d. P.: Henning Heine. Franz-Mehring-Platz 1 · 10243 Berlin · www.rosalux.de
19 Demirović, Alex: Radikale Demokratie und Sozialismus. Grenzen und Möglichkeiten einer politischen Form. ONLINE-Publikation 21/2017 wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung V. i. S. d. P.: Henning Heine. Franz-Mehring-Platz 1 · 10243 Berlin · www.rosalux.de